Es war unser dritter und letzter Tag in Almaty. Am Vortag hatten wir eine Stadtrundfahrt gemacht und den 1800 Meter hohen Medeo mit der „Fabrik der Weltrekorde“ (ein mittlerweile veraltetes Eisstadion) besucht. Bei der Rundfahrt hatten wir einen Fahrer und eine deutschsprachige Stadtführerin ganz für uns allein.
Der Spaß war nicht billig, aber so konnten wir in kurzer Zeit viele Sehenswürdigkeiten anschauen und wurden dabei über die Geschichte der Stadt informiert. Gemerkt habe ich mir, dass unser Guide die Autorin unseres Reiseführers persönlich kannte.
Am Ende des Tages empfahl sie uns den Sharyn-Canyon, den sie als den Grand Canyon Kasachstans bezeichnete. Wir dachten, es wäre cool, auch noch etwas vom Land außerhalb der Städte Almaty und Astana zu sehen und entschieden uns dafür.
Der Sharyn oder Charyn- oder auch Scharyn-Nationalpark (Kasachisch: Шарын ұлттық паркі, Russisch: Чарынский национальный парк) liegt etwa 200 Kilometer von Almaty entfernt und man kann ihn in einem Tagesausflug besuchen.
Mit Anatoli durch die Dörfer Kasachstans
Die Fahrt dorthin dauerte drei Stunden und kostete inklusive unseres Fahrers Anatoli und seinem Geländewagen 45.000 Tenge (140 Euro). Anatoli war etwa 55 Jahre alt. Er sprach kein Englisch und kein Deutsch und war daher sehr wortkarg. Mir fielen seine extrem dreckigen Hände auf, aber ich fand den kettenrauchenden Typen irgendwie cool.
Die Fahrt führte durch kleine Dörfer in karger Steppenlandschaft. Am Straßenrand waren überall Marktstände aufgebaut, die alles mögliche anboten aber vorwiegend Obst und Gemüse. Zwischendurch begneten uns immer wieder freilaufende Kühe und Pferde, die manchmal einfach so über die Straße schlenderten und den Verkehr aufhielten.
Übelkeit und Offroad
Die Straßen waren in einem sehr schlechtem Zustand. Es ruckelte ununterbrochen. Wenn man auf der Rückband saß, hüpfte man ständig hin und her. Der Fahrstil der Kasachstaner tut sein Übriges dazu. Meiner Mutter war die ganze Fahrt über übel und konzentrierte sich darauf, sich nicht zu übergeben.
Als wir uns dem Sharyn-Canyon näherten, wurde die Streckenführung sehr viel kurviger und führte zwischen Bergen hindurch. Anatoli beeindruckte das aber wenig und fuhr – zur „Begeisterung“ meiner Mutter – mit der gleichen Geschwindigkeit weiter. Dann bog er von der Staße ab in die Wüste.
Obwohl wir nun keine richtige Straße mehr unter uns hatten, drosselte Anatoli die Geschwindigkeit immer noch nicht und raste mit 100 Sachen weiter. Meine Mutter krallte sich im Amaturenbrett fest. Weil ihr das aber auch kein besseres Gefühl gab, bat sie ihn schließlich langsamer zufahren. Er lachte und fuhr mit für die Verhältnisse immer noch rasanten 70 Km/h weiter.
Ein Mann in der Wüste
Irgendwann erschien mitten in der Wüste eine kleine Hütte mit einer Schranke davor. Sie stellte den Eingang zum Sharyn-Nationalpark und seinem Canyon dar. In der Hütte arbeitete ein Mann, der aus meiner Sicht den langweiligsten Job der Welt hat. Er sitzt den ganzen Tag allein in der Wüste und kassiert das Eintrittsgeld von den Besuchern, die hin und wieder auftauchen. Ich wünschte ihm, dass er ein gutes Buch dabei hatte.
Nachdem Anatoli und der Mann sich wie alte Freunde begrüßt und ein wenig geplaudert hatten, zahlten wir den Eintritt und durften die Schranke passieren.
Perfektes Schuhwerk für jeden Anlass
Von dort aus dauerte es nur noch ein paar Minuten, bis wir am oberen Ende des Sharyn-Canyons ankamen. Anatoli machte uns klar, dass er hier warten würde, während wir in den Canyon runterstapfen sollten bis zum Sharyn-River. Er zeigte auf die Uhr und hob drei Finger. Ich war froh, dass es gerade 12 Uhr war. Denn so war es egal, ob er drei Stunden oder drei Uhr meinte – wir würden in jedem Fall nicht alleine in der Wüste sterben.
Um in den Canyon zu kommen, mussten wir einen ziemlich steilen Abhang hinunter gehen. Meine Sneakers mit abgelaufener Sohle waren nicht gerade das geilste Schuhwerk für den trockenen, sandigen Untergund und ich nahm mir vor, für sowas endlich Mal gescheite Schuhe zu kaufen. Zuletzt hatte ich mir das in Island fest vorgenommen, wo ich mit ähnlich professionellem Schuhwerk unterwegs war. Das war über ein halbes Jahr her…
Cowboy unter Erdhörnchen
Unten im Canyon war es ziemlich beindruckend. Ich war noch nie am Grand Canyon, doch dieser hier sah den Bildern, die ich kannte, ziemlich ähnlich, nur eben nicht so groß. Während ich mich wie im Wilden Westen fühlte und „Poor lonesome Cowboy“ von Lucky Lucke trällerte, machten wir uns auf den Weg in Richtung Fluss.
Im Reiseführer hatte ich gelesen, dass es in dieser Gegend giftige Spinnen und Skorpione gebe, gesehen habe ich aber keine. Dafür waren dort ein Menge Erdhörnchen-ähnliche Viecher, die in Höhlen unter der Erde wohnten und ein fliegendes Insekt, dass mich belästigte.
Etwa hundert Fotos später waren wir am smaragdgrünen Scharyn-Fluss angekommen.
Wir hatten etwa eine Stunde für den Weg gebraucht, allerdings war es ausschließlich abwärts gegangen und wir mussten den ganzen Weg wieder hoch krakseln. Weil wir dachten, dass bergauf ungefähr doppelt so lang dauern würde, legten wir nur eine kurze Verschnaufpause ein.
Komischerweise haben wir zurück aber auch nur eine Stunde gebraucht. Dafür waren wir dann aber ziemlich kaputt.
Boeuff Stroganoff in uigursichem Cafe
Auf der Rückfahrt hielten wir an einem uigurischen Cafe, um was zu essen. Es schien ein Ort zu sein, an dem vor allem Truckerfahrer Rast machen.
Die Karte konnten wir wieder einmal nicht lesen und Anatoli, der, wie bereits erwähnt, auch kein Englisch konnte, versuchte uns bei der Wahl zu helfen. Wir verstanden ihn nicht, nickten aber alles ab. Meine Mutter bestand allerdings darauf, kein Pferd zu essen. Das Pferd ahmte sie, wie ich finde, pantomimisch eindrucksvoll nach.
Wir bekamen „Suppe Kasachstan“. Darin waren breite Bandnudeln, Suppenfleisch, Zwiebeln, Petersilie und Ingwer. Die Flüssigkeit an sich war ziemlich geschmacksarm und das Fleisch teilweise extrem fettig. Aber wir waren froh nach unserem langen Marsch endlich etwas zu essen zu bekommen und löffelten sie in uns hinein.
Als nächstes gab es Schaschlik-Spieße mit rohen Zwiebeln. Während wir uns darüber her machten, entdeckte meine Mutter ein lecker aussehendes Gericht am Nachbartisch und versuchte Anatoli klar zu machen, dass sie dieses auch will. Er verstand nicht, welches der vielen Gerichte, die auf dem Tisch standen, meine Mutter meinte, ging hin und hob der Reihe nach das Essen der anderen Gäste hoch, bis er das richtige gefunden hatte. Die Leute schien es nicht zu stören, dass ein fremder Mann mit ziemlich dreckigen Händen einfach ihr Essen anfasste.
Wie sich herausstellte, war das lecker aussehende Gericht „Boeuf Stroganoff“. Es war eine Art Sahnegeschnetzeltes mit Zwiebeln, Gurken und Tomaten. Als Beilage gab es Kartoffelbrei und Reis. Es war das beste Essen, dass ich in Kasachstan zu mir genommen habe.
Gottverlassene Straßen
Auf der Rückfahrt störte weder mich noch meine Mutter das Geruckel noch großartig und wir schliefen ein. Als wir aufwachten, war es bereits dunkel und wir befanden uns am Rande der Stadt Almaty, als Anatoli plötzlich in eine unbeleuchtete Seitenstraße einbog und keine Menschenseele mehr zu sehen war.
Nach einigen Minuten wurde ich etwas unruhig und fragte ihn, wo wir sind. Er antwortete nicht. Kurz dachte ich darüber nach, ob er uns jetzt nur ausraubt oder ausraubt und tötet. Dann bog aber er wieder in eine größere Straße ein und ich erblickte schon bald das Hotel Kasachstan, wo unser Ausflug endete. Erleichtert stiegen wir aus und mit einem schlechten Gewissen, dass ich dem guten Anatoli solche Schandtaten zugetraut hatte, machten wir uns auf den Weg in unsere Pension.
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