Leben, Sterben, Wiedergeborenwerden – Leben, Sterben, Wiedergeborenwerden – Leben, Sterben, Wiedergeborenwerden… Das ist Samsara, der ewige Kreislauf des Daseins. Nach hinduistischem Glauben sind wir alle in ihm gefangen, viele Leben lang, bis wir die endlose Kette endlich durchbrechen. Diese Erlösung heißt Moksha. Den meisten dürfte der buddhistische Begriff Nirvana geläufiger sein. Jeder Hindu strebt danach. Doch der Weg ist mühsam. Allerdings gibt es eine Abkürzung zur Erlösung und die führt über eine Stadt namens Varanasi.
Varanasi ist die heiligste aller Städte am heiligen Fluss Ganges. Wer hier ein Bad nimmt, wäscht sich von allen Sünden rein. Das klingt gut und deshalb machen das viele Menschen. Baden ist aber nur das Zweitbeste, was Du hier machen kannst. Nummer 1 ist Sterben. Seit mehr als 2500 Jahren kommen Hindus hierher, um entweder das eine oder das andere zu tun.
Varanasi ist weltberühmt
Ich kam ganz irdisch in die Stadt der Toten – mit dem Zug von Rishikesh aus, 13 Stunden auf einem Sitz, den ich mir hatte teilen müssen.
Doch erstens ist das in Indien keine weite Reise und zweitens wollte ich unbedingt sehen, wovon ich schon so oft gehört hatte. Viele, eigentlich jeder Reisende, der Varanasi besucht und den ich getroffen hatte, hatte mir davon erzählt.
Reinwaschen in den Überresten der Toten
Ich spazierte von der Hauptstraße mit ihrem überbordenden Verkehr aus zu den Ghats. So werden die Treppen genannt, die sich entlang des Flussufers erstrecken. Der Weg führte durch ein Häusergewirr mit engen Gassen voller Kuhscheiße. Varanasi ist dreckig – noch dreckiger als viele andere dreckige Städte in Indien. Dann erreichte ich die Treppen.
Alles in Varanasi spielt sich hier ab. Die Menschen baden im Ganges, während daneben Leichen brennen und ihre Asche in den heiligen Fluss gestreut wird.
Dabei wird ein Stück Knochen aufgehoben. Beim Mann soll es aus der Brust und bei der Frau aus dem Becken stammen. Das wird mit der Asche in den Fluss gegeben.
Manche Leute – Leprakranke, Kinder und schwangere Frauen, die gestorben sind – werden nicht verbrannt, sondern einfach so im Ganges versenkt. Ich sah in Varanasi zum ersten Mal einen Toten.
Erst wenige Tage zuvor hatte ich im Ganges gebadet, ein paar Hundert Kilometer nordwestlich von Varanasi. Das hatte meine Sünden vielleicht nicht so gründlich getilgt, wie wenn ich hier badete, aber ich wollte lieber nicht zwischen Toten, Brust und Beckenknochen planschen und entschied, dass das reichen muss.
Die Inder sind da nicht so pingelig. Sie waschen nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Wäsche am gleichen Ufer, im gleichen Fluss.
Die Nackten von Varanasi
Aber das war noch nicht alles: Während meines Besuchs in Varanasi hatten gerade viele Sadhus ihre Zelte an den Ghats aufgeschlagen. Sadhus sind heilige Männer, die zum Teil nackt leben. Sie kommen alle sechs Jahre aus den Bergen, um das Kumbh Mela, das größte Festival der Welt, zu besuchen und das fand gerade in Allahabad statt, nur 100 Kilometer entfernt. Viele Sadhus wohnten in dieser Zeit in Varanasi in Zelten. Ich beobachtete, wie sie am Ufer stehend ihre nackten Körper mit der Asche der Toten einrieben.
Außerdem sind viele Sadhus Dauerkiffer. Warum, ist schwierig zu erklären. Wie so oft im Hinduismus gibt es mehrere Geschichten. Die folgende gefällt mir ganz gut: Die Sadhus kiffen wegen Shiva, einem der drei höchsten Götter im Hinduismus. Was uns wieder zu Samsara bringt, dem ewigen Kreislauf des Daseins. Denn die drei höchsten Götter symbolisieren Erschaffung, Erhaltung und Zerstörung (hier mache ich mir Gedanken zur hinduistischen Trinität). Der Erschaffer ist Brahma, der Erhalter heißt Vishnu und Shiva ist der Zerstörer. Wenn Shiva zornig wird, gibt es nichts, was ihn aufhalten kann. Es ist besser, wenn er möglichst cool bleibt. Deshalb lebt er auch nicht bei seiner Familie, sondern hängt die meiste Zeit in den Bergen ab, meditiert und raucht Marihuana.
Die Sadhus verehren Shiva und deshalb kiffen auch sie. Dabei sitzen sie den ganzen Tag in ihren Zelten und laden vorbeilaufende Leute ein, sich zu ihnen zu gesellen, mit ihnen zu rauchen und zu plaudern. Es ist ihnen nicht unrecht, wenn die Eingeladenen zum Dank eine Spende hinterlassen.
Jede Menge Fake-Sadhus
Im Umgang mit den Sadhus muss man allerdings vorsichtig sein. Beispielsweise lassen sich die meisten nicht gerne fotografieren – und wenn, kann man davon ausgehen, dass sie eine Spende dafür wollen.
Denn die Babas, wie die Sadhus auch genannt werden, gehen keiner Arbeit nach. Sie leben von Spenden. Deshalb gibt es nicht wenige, die zwar wie Sadhus aussehen, aber keine sind. Sie wollen bloß das Geld der Leute.
Menschenfleisch und Totenasche
Manchmal verschenken sie auch Fleisch und fordern dazu auf, es zu essen. Bevor Du das tust, sollte Dir bewusst sein, dass das Menschenfleisch sein kann. Denn diese Sadhus unterschieden nicht zwischen Gut und Schlecht. Deshalb ist für sie Menschenfleisch genauso viel wert wie das Fleisch jedes anderen Lebewesens. Die Schwierigkeit ist, das Fleisch nicht zu essen, ohne den heiligen Nackten zu beleidigen.
Ich kam gar nicht in die Verlegenheit. Mir malte ein Baba lediglich einen Strich aus Asche auf die Stirn. Darüber, woher die Asche stammen könnte, machte ich mir erst später Gedanken.
Die perfekte Abkürzung zur Erlösung
Zurück zum Ganges: Nach Varanasi wollen sie alle kommen – zumindest am Ende ihres Lebens – um die Asche ihres verbrannten Körpers auf den Weg schicken zu lassen. Aber warum?
Weil der Hindu in Varanasi eine direkte Abkürzung zu Moksha nehmen kann, anstatt sich das in unzählbar vielen Leben zu erarbeiten. Dafür muss er nichts Weiteres tun, als sich in Varanasi verbrennen zu lassen und dafür zu sorgen, dass seine Asche im Ganges verstreut wird. Schluss mit Hamsterrad. Ende mit Kreislauf des Daseins. Die perfekte Abkürzung.
Der Reiche hat größere Chancen auf Erlösung und das zu Recht
Es dürfte klar sein, dass sich die meisten Inder weder die Reise nach Varanasi noch die Bestattung leisten können. Die Erlösung ist also einfacher zu erreichen, wenn man pekuniär gut ausgestattet ist. Denn der Reiche hat sich seine jetzige Stellung und das Geld in seinen vorherigen Leben erarbeitet und steht zu Recht da, wo er jetzt ist.
Wer ganz arm ist, hat keine Chance auf eine Bestattung und die Erlösung im Ganges. Er darf aber die Ghats von den Überresten der Toten und den abgebrannten Scheiterhaufen reinigen. Das ist der Job der Unberührbaren, die es offiziell gar nicht mehr gibt. Auch die Unberührbaren stehen zu Recht am Ende der Nahrungskette. Ihr Status bzw. ihre Kaste ist das Resultat ihrer Taten in früheren Leben.
So gesehen hatte auch ich es mir erarbeitet, Varanasi zu besuchen. Allerdings gelten die Regeln des Hinduismus für mich nicht. Denn der weiße Mann steht außerhalb des Kastensystems. Er blickt nur staunend durch seine Kamera auf das Geschehen.
Dieser Blick war faszinierend, aber ich fühlte mich nicht wirklich wohl. Denn Varanasi war intensiv. Im Allgemeinen hört man das Adjektiv häufig, wenn Leute von ihrer Indienreise erzählen. Aber Varanasi setzte da noch einen drauf. Ich traf Traveller, die Wochen in Varanasi verbracht und auch dann nur schweren Herzens weiterzogen. Mir ging das nicht so. Nach 3 Nächten hatte ich genug und ich verließ die heilige Stadt.
Varanasi-Infos
Sehenswert
Bootstour:
Bereits vor meiner Reise nach Indien hatte ich gelesen, dass eine Bootstour auf dem Ganges zum Sonnenaufgang ein Muss sei. Ich habe diese dann auch gemacht, vom Hostel aus. Und ich muss sagen, dass eine Tour am Abend womöglich die bessere Wahl ist. Denn am interessantesten war der Trubel auf den Ghats, dem wir vom Boot aus mit besonderer Perspektive relaxed zuschauen konnten. Zu Beginn der Tour war allerdings noch nichts los, weil fast alle noch schliefen. Abends hat man dieses Problem nicht.
Bemerkenswert ist, dass die Stadt ausschließlich auf der linken Seite des Ganges liegt. Das rechte Ufer liegt brach. Vom Fluss aus kann man diesen bizarren Kontrast am besten beobachten.
Aarti:
Morgens und Abends finden an den Ghats heilige Zeremonien statt. Es wird gesungen, musiziert und natürlich werden dem Ganges Kerzen übergeben. Das Bild, das sich ergibt, wenn sich unendlich viele Boote vor den Ghats versammeln, um der Zeremonie beizuwohnen, ist spektakulär.
Ashish Café: Leckeres Restaurant mit gehobener indischer Küche. Besonders empfehlenswert ist das Special Thali.
Mango, Banana, Papaya und hundert andere Früchte in allen Kombinationen – hier gibt es eine riesige Auswahl an Lassis, dem typisch indischen Joghurtdrink. Die Lassis sind lecker, aber der Laden steht im Lonely Planet und war gerammelt voll mit Touristen, als ich da war.
Brown Bread Bakery: Café, das richtiges Brot und richtigen Käse anbietet – das einzige Mal, dass ich das in Indien bekommen habe. Es gibt dort sonst nur Paneer und der ist ganz anders als unser europäischer Käse.
Kashi Vishvanath Tempel: Bevor ich zum Blue Lassi Shop ging, wollte ich den Shiva-Tempel besuchen. Aber die Warteschlange ging um drei Häuserblocks. Also habe ich es gelassen. Später erzählten mir andere im Hostel, dass die Schlange für die Inder ist. Wer den Tempel nur besichtigen will, darf sie umgehen. Naja, nächstes Mal vielleicht.
Hi Ruti
War ganz von den Socken, als ich gesehen habe, dass Du aus Varanasi berichtest. In meiner Erinnerung ist es tatsächlich auch einer der dreckigsten Plätze in Indien … aber, glaube es, oder glaube es nicht, ich kann heute noch (nach fast zehn Jahren) die Trommeln und Zimbel vom abendlichen Aarti hören, wenn ich an den Abend auf dem Ganges-Boot in Varanasi denke.
Freue mich schon auf Deinen nächsten Bericht.
Weiter gute Reise, und viele Grüße,
Diane
Hey Diane,
ich war froh, dass es in meiner Zeit in Varanasi nicht geregnet hat. Dann läuft man in den kleinen Gassen bestimmt knöcheltief in Scheiße.
Das mit dem Aarti ist witzig. Bei dem in Rishikesh konnten einigen Touristen sogar mitsingen. Ich kann mich an die Lieder nicht mehr erinnern, aber das Klingeln ist mir auch noch im Ohr.
Danke für Deinen Kommentar!
Ruti